Heike Mayer
Kurt Kühn
Ein unbekannter Impressionist
Nicht nur Bücher, auch Häuser haben ihre Schicksale.
In den Sommerferien 1966 fährt der 13jährige Hartmut Honzera aus Tübingen mit seinen Eltern nach Waging am See in Oberbayern.
Ihre private Unterkunft in der Kurhausstraße 1 im Ortsteil Fisching liegt 300 Meter vom Seeufer entfernt. Von außen betrachtet kein
besonderes Haus, einfach gebaut, ohne viel Komfort, sogar ohne Heizung, ein Sommerferienhaus eben. Aber als Hartmut eintritt,
stellt er fest, daß dieses Haus eine Art Schatzkammer ist: Überall an den Wänden hängen wunderschöne Bilder, Ölbilder, Aquarelle,
große und kleine, farbenprächtige Naturlandschaften, fremdartig schillernde arabische Gestalten und Szenerien, Stilleben mit Blumen
oder Obst, Porträts von Menschen mit lebendig wirkenden Gesichtern, ausdrucksvollen Gesten. Die Hausbesitzerin und Gastgeberin
Charlotte Kühn erzählt dem staunenden Kind von ihrem Mann, dem Maler Kurt Kühn, mit dem sie das Haus gemeinsam bewohnt hat,
bis er 1957 starb. Er hinterließ ein reichhaltiges Werk mit annähernd 600 Ölbildern, 200 Bleistiftzeichnungen und zahllosen Aquarellen.
Aber kaum jemand kennt und interessiert sich dafür.
Für den jungen Hartmut Honzera sollte diese Begegnung mehr als nur ein Ferienerlebnis werden. Die Familie verbrachte noch öfters
ihren Urlaub bei der Malerwitwe Charlotte Kühn, mit jedem Mal wuchs die Faszination, und schließlich nahm Hartmut sich vor, wenn er
erwachsen sei, dieses Werk vor dem Vergessen zu retten. Und wirklich machte er seinen Traum wahr: Nachdem er das Abitur abgelegt hatte,
begann Honzera mit dem Studium der Kunstgeschichte. 1979 schloß er es mit einer Magisterarbeit ab, deren Titel lautete:
"Der Maler Kurt Kühn (1880-1957). Versuch einer Positionsbestimmung". Zur Vorbereitung war er nach Waging zurückgekommen, um einige
Zeit im Haus des Malers zu wohnen und zu arbeiten. Hier bekam er Einblick in alte Dokumente, die Aufschluß über Kühns künstlerische
Laufbahn gaben und hielt fest, was Charlotte Kühn ihm an persönlichen Erinnerungen mitteilte. Er sichtete den umfangreichen Nachlaß,
fotografierte die 600 Ölgemälde, inventarisierte sie und setzte sich dafür ein, daß das Werk öffentlich gezeigt wurde. 1980 organisierte
Hildegard Eck aus Waging anläßlich des 100. Geburtstages von Kurt Kühn eine Ausstellung, die zunächst im kleinen Kreis offenbarte,
welch verborgener Schatz viele Jahre lang unbeachtet geblieben war. 1981 und 1986 fanden durch den Einsatz Honzeras in Grafenau bei
Sindelfingen zwei Ausstellungen statt, die der kunstinteressierten Öffentlichkeit eine umfangreiche Werkauswahl zugänglich machten.
Hartmut Honzera ist es zu verdanken, daß der 'Schatz' gehoben und ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde und daß dem Werk
Kurt Kühns damit eine späte Anerkennung zuteil wurde. Ihm ist es aber auch zu verdanken, daß die Erinnerung an Kühn dauerhaft bewahrt
bleiben kann. Danach sah es zunächst kaum aus. Denn mit dem Verkauf kam der zweifellos interessanteste und wertvollste Teil von Kühns
Werk, das Frühwerk mit den Bildern aus Afrika, zum großen Teil in verschiedene private Hände und wurde dadurch in alle Winde verstreut.
Zudem ereignete sich in Kühns Waginger Haus 1988 ein Unglück, das Charlotte Kühn das Leben kostete und den Ort der Erinnerung für
immer zerstörte. Das Waginger "Hexenhäusel", wie Kurt Kühn es liebevoll nannte, hätte nach dem Tod der Witwe zu einer musealen,
lebensnahen Erinnerungsstätte werden können. Doch einer Gasexplosion fiel dieser Traum zum Opfer. Zum Opfer fielen auch die wenigen
wertvollen Stücke der Inneneinrichtung, Teile des künstlerischen Werkes, persönliche Dokumente.
Soweit Dokumente und Aufzeichnungen erhalten geblieben sind und sich heute im Besitz der Erben befinden, konnten sie für die
vorliegende Publikation ausgewertet werden. Aber für manches, was Hartmut Honzera anscheinend noch schriftlich vorgelegen hat, gibt
es heute keinen anderen Beleg mehr als eben seine Magisterarbeit. Diese blieb, wie bei Magisterarbeiten üblich, unveröffentlicht.
Hartmut Honzera starb 1994, 41 Jahre alt. Unsere Darstellung baut, was die kunstwissenschaftliche fundierte Beurteilung von Kühns
Malerei betrifft, auf seiner Arbeit auf. Von unschätzbarem Wert war außerdem die umfangreiche Fotosammlung, die Honzera von Kühns
Bilder angelegt hat und durch die es nun möglich ist, zumindest einen Teil der großartigen arabischen Bilder zu zeigen, mit denen
Kurt Kühn seinen Platz in der Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert verdient hat.
Kurt Kühn war ein vielseitig begabter Mensch; nicht nur als Maler und Zeichner, sondern auch als Musiker, Komponist,
Dramatiker und Schriftsteller hat er ein nicht geringes Werk hinterlassen. Zeitzeugen berichten außerdem von seiner großen
Liebe zum Geigenspiel, von seiner Gabe, fesselnd zu erzählen oder von seiner Fähigkeit, ein Aquarell virtuos zu improvisieren.
Auch hat seine Begabung auf keinem Gebiet zu so außerordentlichen Ergebnissen geführt wie bei seinen Bildern der Jahre 1910 bis 1919.
An die verheißungsvollen Anfänge, das öffentliche Interesse, das er in Paris erlangte, konnte er später, nach seiner Rückkehr nach
Deutschland, zu keiner Zeit mehr anknüpfen. Die Zwanziger Jahre waren geprägt von persönlicher Orientierungslosigkeit, und an den
Bildern der Dreißiger Jahre ist abzulesen, wie Inspiration und Kraft nachlassen.
Das hervorstechendste Merkmal Kühns ist eine innere Unabhängigkeit, die er sich seit seiner Kindheit und bis ins hohe Alter,
persönlich wie in seinem Schaffen zu bewahren suchte. Sein Außenseitertum, das in allen Lebensphasen deutlich hervortritt, ist
ein deutliches Zeichen für dieses Bestreben. Damit ist nicht gemeint, daß seine Kunst als voraussetzungslos zu gelten hätte.
Der französische Impressionismus, die Fauves, Cézanne sind die Grundlagen, auf denen Kühns Malerei unverkennbar aufbaut.
Gerade die Bilder, die im unmittelbaren Anschluß an die Pariser Zeit in Afrika entstanden sind, zeigen was mit dieser inneren
Unabhängigkeit gemeint ist. Kühn trägt nicht einen bereits feststehenden 'Stilwillen' in den Orient und sucht sich dazu
passende Motive, um sie dieser Idee entsprechend darzustellen, sondern umgekehrt: Er sucht allein und bislang ungekannte
Seh-Erfahrungen - die vor allem die Lichtverhältnisse betreffen - und leitet daraus eine neue und ganz eigene Raum- und
Farbkomposition ab.
Der Entwicklung in Deutschland hatten die Erfahrungen des ersten Weltkrieges Vorschub geleistet, wie es Paul Klee
(1879-1940) in einer Tagebuchnotiz 1915 auf den Punkt brachte: "Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto
abstrakter die Kunst" (Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, hg. von Felix Klee, Köln 1957, S. 323). Wie zum Beispiel auch bei
Max Beckmann (1884-1950), der als freiwilliger Krankenpfleger die Schrecken des Krieges erlebte und im Herbst 1915 einen
Nervenzusammenbruch erlitt. In seinen Bildern schlagen sich diese Erfahrungen in Gestalt einer pessimistischen Grundhaltung
und eines tiefgreifenden Wandels seines Malstils nieder.
Vor diesem Zusammenhang einer künstlerischen Verarbeitung des Erlebten erscheint es für Kühns Kunst symptomatisch,
daß der Maler, der Europa 1910 verließ, die Schrecken des Krieges wenn überhaupt, nur aus der Distanz beobachtet, aber
nicht unmittelbar selbst erlebt hat. Und vielleicht konnte er sich nach seiner Rückkehr gerade deshalb so schwer in
Deutschland wieder zurechtfinden, weil er die tiefgreifenden geistigen Umwälzungen in den vorhergehenden Jahren nicht
mitvollzogen hatte. Daraus das Urteil abzuleiten, Kühns Malerei wäre, eben weil nicht der Idee der Abstraktion folgend,
ihrem Wesen nach rückständig, ist vielleicht nicht unzutreffend und dennoch ungerecht. Sein Festhalten am Gegenständlichen
erscheint genau besehen höchst glaubwürdig und durchaus folgerichtig. Es zeigt sich darin wiederum jene innere Unabhängigkeit,
die Kühn empfinden ließ, er habe es nicht nötig, sich dem Diktat einer 'Avantgarde-Kunst' zu unterwerfen.
Freilich: Eine solche Art innerer Unabhängigkeit muß man sich leisten können, auch in einem ganz konkreten, materiellen Sinn.
Kühns Reiseziele, die Wahl seiner Motive wie die Gestaltung seiner Bilder - alles das offenbart eine zeitlebens
anscheinend ungebrochene Sehnsucht nach Schönheit, einen durchaus romantisch zu nennenden Versuch, in der Darstellung
einer friedlichen, zivilisationsfernen Natur eine Gegenwelt zur industrialisierten Arbeitswelt zu schaffen. Man sieht
den Bildern nur auf den ersten Blick nicht an, was von ihrem Urheber bezeugt ist: Daß es sich dabei um einen Menschen
handelt, der die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mit wachen Sinnen und großem Interesse
mitverfolgte. Der Umstand, daß er nicht die Zerstörungen des Krieges malte - deren Zeuge und Opfer er schließlich
selbst noch wurde - und auch nicht die Kälte und Anonymität der modernen Welt, sondern die friedliche Landschaft und
schöne Natur, könnte deshalb vielleicht auch noch etwas anderes bedeuten als bloße Weltflucht. Das Gespräch über
Bäume schließt eben nicht notwendig das Schweigen über Verbrechen ein, sondern kann gerade diese zum Thema machen.
ISBN 3927966983